Existiert Mittelerde? Betrachtungen anlässlich
einiger Überlegungen zur Filmtrilogie The Matrix.
© Frank Weinreich


Existiert Mittelerde vielleicht doch irgendwo da draussen? Nun, es gibt eine handfeste wissenschaftliche Spekulation, aus der sich ableiten lässt, dass Mittelerde mit erdrückend hoher Wahrscheinlichkeit existiert! Und zwar genau die Mittelerde die wir kennen: mit Frodo, Sam, Gandalf, Aragorn ebenso wie mit Saruman, Sauron und Legionen von Orks und Wargen. Wie ich gleich erklären werde, besteht sogar eine gewisse (geringe) Chance, diese Mittelerde zu besuchen und vielleicht sogar auf den Pelennorfeldern ein wenig 'auszuhelfen' - nur hängt das leider nicht von Dir ab.

Wie ich dazu komme diesen Unsinn zu schreiben? Nein, dieser kleine Essay ist keine Geschichte wie die von dem verrückten französischen Archäologen. Dies meine ich durchaus ernst. Es ist Spekulation - na klar, aber hör Dir das mal an:

Ich denke, die Geschichte der Matrix ist bekannt, ja? Maschinen haben die Erde übernommen und halten die Menschen als organische Batterien in riesigen Plantagen. Damit die Körper nicht eingehen, muss der Geist beschäftigt werden, weshalb die Maschinen den in Kokons gehaltenen Menschen die Simulation der gesamten Welt mit allen Gesellschaften, Städten, Dörfern, Freunden, Familien direkt ins Gehirn einspeisen: die Matrix. Wir Menschen träumen unsere Welt also nur, sie erscheint uns aber vollkommen real und wir haben alleine keine Möglichkeit, den Schwindel aufzudecken. Im Film geschieht das natürlich schon. Aber was wäre, wenn wir wirklich in einer Matrix, in einer Simulation lebten. Nur eben in einer perfekten Simulation, aus der uns kein Morpheus, keine Trinity und kein Neo herausholen? Würden wir das merken? Nein, würden wir nicht.

Diese Idee ist uralt und geht mindestens bis zu dem seit 2350 Jahren toten Philosophen Platon und seinem Höhlengleichnis zurück: Woher wissen wir, dass die Welt, die wir erleben die reale Welt ist? Das war Platos Frage. Und im siebzehnten Jahrhundert hat der Philosoph René Descartes zudem die Frage aufgeworfen, ob denn nicht außerdem ein bösartiges Wesen, der Demiurg, uns absichtlich eine ganz falsche Welt vorgaukelt. Wenn der Demiurg allmächtig oder auch nur fast allmächtig ist, dann würden wir die Illusion auch nie aufdecken können. Und schon sind wir bei der Matrix.

Die Matrix ist heute viel weniger phantastisch als es der Demiurg für Descartes gewesen ist. Der Demiurg ist ein übernatürliches Wesen - hey, das kostet schon einiges, daran zu glauben. Aber die Matrix wird von Computern generiert. Okay, es sind Computer, die tausend mal leistungsfähiger sind als unsere heute. Aber unsere sind tausendmal leistungsfähiger als die von vor dreißig oder vierzig Jahren. Der Computer, an dem Du gerade sitzt und diesen Text liest, ist mindestens so leistungsfähig wie eine Cray-1, die anfang der Siebziger Millionen von Dollar gekostet hat. Wer weiß also, wie es in hundert Jahren aussieht? Oder in tausend? Zeit hat, wie ich zeigen werde, keinerlei Bedeutung in diesem Zusammenhang. Was das mit Mittelerde zu tun hat? Na, wenn man unsere Welt simulieren kann, warum nicht Mittelerde?

Und was heißt schon Simulation? Heißt das wirklich, dass etwas nicht echt ist? Ich weiß es nicht, aber der britische Philosoph Nick Bostrom geht davon aus, dass wir alle simuliert sein könnten. In einem Aufsatz mit dem Titel "Are You Living in a Computer Simulation" aus der Zeitschrift Philosophical Quarterly führt er das aus (Bostrom 2003; netterweise hat Nick den Aufsatz auch ins Netz gestellt und zwar hier). Das Argument geht - stark verkürzt - folgendermaßen.

1. Vorausgesetzt man hat genug Rechnerleistung, gibt es keinen zwingenden Grund, dass Bewusstsein an eine biologische Basis gebunden sein muss. Gehirnaktivität ist elektrische Aktivität, die kann auch in Computern stattfinden.
2. Die Rechnerleistung werden wir selbst unter vorsichtigen Annahmen auf jeden Fall erreichen. Wann ist egal. Aber selbst wenn der Quantencomputer nicht verwirklicht werden sollte, so wird die konventionelle Rechnertechnik wahrscheinlich im planetaren Maßstab angewandt bis zu 1042 Rechenschritte pro Sekunde erlauben. Um ein menschliches Gehirn mit all seinen Empfindungen und Gedanken zu simulieren, braucht es wahrscheinlich 1016-17 Rechenschritte, so dass wir für die 6 Milliarden heutigen Menschen 'nur' 6025 Rechenschritte pro Sekunde brauchen. Lass jetzt noch alle Materie bis zum Mond mitsimulieren sowie in einer dann nicht mehr so aufwändigen Qualität die Erscheinungen des restlichen Sonnensystems und ein paar Rechenschritte zur Simulation des Outer Space dazu, so kommen wir auf eine Schätzung von 1033-35 Rechenschritten für eine perfekte Simulation unserer gesamten Welt und des umgebenden Universums. Da aber mindestens 1042 zur Verfügung stehen, können die Menschen der Zukunft Millionen solch anspruchsvoller Simulationen laufen lassen. Es geht ja bei allen möglichen Simulationen nie darum, etwas Unendliches darstellen zu müssen, sondern immer 'nur' um endliche Inhalte. Nach David Deutsch - einem israelischen Physiker, der die Arbeiten Bostroms beeinflusst hat - geht es darum. "im voraus eine beliebig kompliztierte Umwelt festzulegen, deren Simulation eine beliebig große, aber endliche Menge an Berechnungen erfordert" (Deutsch 1996, 139). Dazu kommt, dass die zu beinflussenden ebenso wie zu simulierende Menschen in ihrem Kopf auch nur einen Rechner mit endlicher Rechenkapazität haben: das Gehirn. Das bedeutet, dass die Umwelt mit "jeder beliebigen subjektiven Geschwindigkeit und Genauigkeit" erlebt werden kann, "die unser Geist verarbeiten kann" (139). Der kann aber nur mit endlicher Geschwindigkeit verarbeiten, ein computer der Zukunft kann dies laut der oben angestellten Berechnung allemal und für Milliarden von Menschen leisten. Deutsch weist übrigens auf die ungebrochene Beweiskraft einer alten Argumentation von Alan Turing hin, nach der es prinzipiell keinen Grund gibt, anzunehmen, dass es nicht einen "universellen Computer" geben kann, der in der Lage ist, "jede Berechnung" auszuführen, die dazu dient, zu simulieren, was ein physikalisches Objekt an Aktion oder Reaktion auszuführen vermag: ein universeller Simulator ist möglich (148).
3. Was wird die Zukunft mit dieser Rechenpower machen? Laut Bostrom kann man aus dem heutigen Verhalten ableiten, was man in Zukunft machen wird. Schon heute wird sehr viel Geistesschmalz und Rechenleistung in die Wissenschaft gesteckt. Einen immer größeren Platz nimmt die Simulation von Sachverhalten ein. Schon heute wird simuliert, wie Leute sich in Panik, bspw. wenn Feuer in einem Hochhaus ausbricht, verhalten. Soziologen und Historiker der Zukunft werden es sich wohl also nicht nehmen lassen, die Vergangenheit zu simulieren, um zu einem besseren Verständnis der menschlichen Verhaltensweisen zu gelangen: hier mal einen Hitler hinsetzen, dort mal einen Gandhi ausprobieren und schauen, was passiert. Wahrscheinlich wird es eine Menge solcher Simulationen geben. Die zukünftigen Wissenschaftler/innen wären begeistert, denn es wären "virtuelle Zeitmaschinen" und "Labors, in denen Sozialwissenschaftler und Geschichtsfans alternative Universen kreieren könnten" (Kelly 2003, 199). Und da sie irgendwann in der Zukunft eingerichtet werden, um unsere Zeit zu simulieren, ist es auch völlig egal, ob der technische Durchbruch in hundert, tausend oder hunderttausend Jahren erfolgt. (Okay, es besteht, die Möglichkeit, dass die eine echte Realität es nie soweit schafft, weil die Menschen sich vorher in den Himmel blasen oder die Umwelt komplett zerstören - wenn sie es aber doch schaffen, macht es für uns keinen Unterschied, weil wir den Unterschied nicht zu erkennen vermögen.)
4. Wenn es nun aber nur eine einzige solche Simulation gibt, steht die Chance, dass Du und ich in der echten Realität leben nur noch fünfzig zu fünfzig - wir könnten genauso gut die Simulation sein. Wenn es aber mehrere Simulationen gibt, vielleicht Millionen (die Rechenpower ist ja da!) dann sinken unsere Chancen darauf, die eine echte Realität zu sein, die das alles mal bewirkt, ins unermesslich Kleine. Anders herum: Es wird in allerhöchstem Maße wahrscheinlich, dass wir nur eine Simulation sind.

Soweit Bostrom. Was? Du sagst, es gibt ein ethisches Problem. Du meinst, unsere Nachfahren würden so eine Gemeinheit nicht machen? Wieso ist das gemein? Die simulierten Menschen haben doch einen freien Willen. Sie können tun was sie wollen. Gut, wenn man willentlich einen Hitler reinprogrammiert, ist es ethisch falsch. Aber wenn man es einfach so laufen lässt - dann sind wir doch nur eine etwas andere Art von Kindern und die fragen wir ja auch nicht vorher, ob sie geboren werden wollen. Natürlich könnten unsere Nachkommen auch keinerlei Interesse haben, uns zu simulieren, vielleicht wäre das das Gleiche für sie, wie für uns, ein Zusammenleben mit Taschenratten zu sinmulieren (so Kelly 2003, 199)? Aber dies Überlegung ist noch weit er weg als die ursprüngliche Simulationsidee, oder?

Soweit also Bostrom. Für das Folgende ist er nicht verantwortlich, namentlich nicht dafür, dass es jetzt ethisch wirklich fragwürdig wird.

Aber wenn die Menschen der Zukunft (Bostrom spricht übrigens von "post humanity") wirklich noch die ungefähr gleichen Interessen haben, dann gehört dazu sicherlich auch Unterhaltung. Jetzt hat es aber nun einmal mindestens eine Simulation gegeben - nämlich unsere - die einen genialen Schriftsteller namens J.R.R. Tolkien hervorgebracht hat. Der hat eine wunderbare Welt beschrieben und was läge näher, als diese Welt zu simulieren? Die Rechenpower ist ja da - wahrscheinlich so leicht verfügbar wie für uns heute ein Notebook. Unter diesen Voraussetzungen denke ich, dass die Chance, dass Mittelerde nicht simuliert wird, verschwindend gering ist.

Irgendwo da draussen wird also auch Tolkiens Welt sein und sie ist genauso real wie unsere, denn wir sind ja auch nur simuliert. So wie viele andere Simulationen auch. Wahrscheinlich muss man sich das so ähnlich wie bei Tad Williams Otherland-Zyklus vorstellen: da gibt es Mittelerde und Star Trek, Babylon 5 und Buffys Sunnydale, die Erdwelt und das Humanx-Universum, Hogwarts und immer so fort.

Was heißt das für Dich? Nun wahrscheinlich nichts, denn wir werden es nie wissen und wir werden vor allen Dingen nie die Simulation wechseln können. Obwohl, wenn unser Schöpfer (der Soziologe, der unsere Simulation ans Laufen gebracht hat) außerdem Tolkien-Fan geworden ist und nebenbei Mittelerde betreibt. Vielleicht hilft dann ja Beten? "Lieber Schöpfer, programmier mich bitte nach Bruchtal um!"

So jetzt muss ich aber Schluss machen. Gerade ist meine Katze zweimal ins Zimmer gekommen ...



(Bochum 08/´03)