Wie man mit Worten eine Welt erschafft
– Aspekte der Entstehung Mittelerdes
© Frank Weinreich


In order of time, growth and composition, this stuff began with me [...]
I mean, I do not remember a time when I was not building it.

(J.R.R. Tolkien, Letter No. 131)



Elen síla lúmenn´ omentielvo – „ein Stern scheint über der Stunde unseres Zusammenseins“. Möge dies auch für Deinen Besuch auf meinen Seiten gelten. Die Formel ist Elbisch – Quenya, genau genommen, die Hochsprache der Elben. Das ist eine erfundene Sprache, eine Sprache, die man aber nichtsdestotrotz sprechen kann, denn sie ist perfekt erfunden. Welche Bedeutung diese und andere Sprachen in Mittelerde haben, welchen Stellenwert Sprache überhaupt für Tolkien hatte und was ihre Bedeutung für das Werk und seine Wirkung ist, ist Thema dieser Arbeit, die der Frage nachgeht, wie man mit Worten eine Welt erschafft.



I

Man kann den HdR völlig ohne Hintergrundinformationen problemlos verstehen und dasselbe gilt auch von Jacksons Verfilmung. Der Zyklus stellt eine wunderbare eigenständige Erzählung dar, die in sich verständlich und abgeschlossen ist. Doch die Lektüre der Bücher und selbst die Verfilmung Peter Jacksons, die doch auf vieles verzichten muss, was die Bücher so bereichert, zeigen durch viele Hinweise auf vergangene Ereignisse, durch die Andeutung eines ganzen Kanons von Sagen, durch Lieder und Gedichte sowie der Überlieferung 'echter' historischer Ereignisse, dass da im Hintergrund der Erzählung vom Ringkrieges eine ganze Welt lauert.

Nun, vielmehr als auf die Ausmaße der Geschichte hinzuweisen, die in immerhin 18 Büchern niedergeschrieben ist, kann ich hier nicht. Die Handlung des HdR eingebettet in einen viel größeren Rahmen, die in den zahlreichen anderen Werken der Mittelerdedichtung entwickelt wird. Allein die Geschichte dieser Welt umspannt viele Jahrtausende voller bedeutsamer Ereignisse und dabei sind die ganzen kleineren, für den Verlauf der Geschichte nicht so wichtigen Handlungen noch gar nicht bedacht, geschweige denn die Tatsache, dass die Geschichten in der Regel in vielen verschiedenen Versionen vorliegen, von denen das 'offizielle Geschichtsbuch'1 Mittelerdes, das Silmarillion, nur je eine Version erzählt. Diese Werke zeigen uns eine Welt von fehlerfreier Kohärenz in geographischer wie historischer Hinsicht (vgl. Dufau 2005, 107)2. In anderen Worten: sie zeigen uns wenn schon keine reale, so doch eine realistische Welt! Wenn man sich auf den Gedanken einer von Zauber durchdrungenen Welt einlassen kann, wirkt Mittelerde in allen Bereichen, die wir über diese Welt erfahren, so als wäre es möglich, dass sie tatsächlich existierte. Die Dichte dieser erfundenen Welt deutet sich im HdR durch die genauen Beschreibungen von Orten und ihren Bewohnern und deren gemeinsamer Geschichte an, weil man als Leser, wie auch als Zuschauer immer wieder Hinweise bekommt, dass hinter jener Ecke und am Ende jeder Erzählung, jedes Liedes und Gedichts noch etwas kommt, das selbst gar nicht mehr gezeigt oder geschildert wird, von dem man aber spürt, dass es da ist und dass man es entdecken könnte, dürfte man jetzt nur ein paar Schritte weitergehen oder hätte man die Möglichkeit, Aragorn oder Gandalf nach der Fortsetzung des zitierten Gedichts zu befragen. Und dieser Eindruck trügt nicht, denn da ist tatsächlich noch eine Unmenge an Material, das in die Ringtrilogie keinen direkten Eingang gefunden hat, das ihr aber diesen dichten Hintergrund verleiht, der überall durchschimmert.

Die posthumen Veröffentlichungen beweisen, dass der Herr der Ringe nur einen kleinen Ausschnitt aus der Mittelerdedichtung darstellt, dessen überwältigenden Erfolg Tolkien nie erwartet hatte, der das Restwerk aber so überschattet, dass es viel weniger wahr genommen wird. Und doch ist es nicht nur die schiere Menge des Materials, das trotz des Auftretens von Zwergen, Drachen und Monstern zu dem realistischen Eindruck von Mittelerde beiträgt, sondern auch und gerade die Art und Weise, in der es präsentiert wird. Das ist zu einem großen Teil der besonderen Beziehung des Autors zur Sprache zu verdanken, der ja hauptberuflich Zeit seines Berufslebens nie Schriftsteller, sondern Universitätsprofessor war und fast durch Zufall zu seinem heutigen Weltruhm gekommen ist.

Der HdR entstand eigentlich, weil Tolkiens Verleger Sir Stanley Unwin, eine Fortsetzung des Hobbits von Tolkien wünschte. Der Hobbit aber war ein Kinderbuch, dessen Motive aus den Erzählungen erwuchsen, die Tolkien in vielen kleinen Geschichten für seine vier Kinder geschrieben hatte. Dass der Hobbit in Mittelerde spielt, ja dass es überhaupt Hobbits in Mittelerde geben würde, war anfangs so nicht geplant. Mittelerde jedoch existierte zum Entstehungszeitpunkt des Hobbits Mitte der Dreißiger Jahre schon lange. Natürlich noch längst nicht in allen Einzelheiten, aber die Entstehungsgeschichte und die wichtigsten geschichtlichen Ereignisse, die hatte Tolkien da schon längst entworfen.

Spätestens seit 1917 hatte Tolkien bewusst und zielstrebig an der Entstehung seines eigenen Kosmos gearbeitet; erste Ideen, Namen, Splitter exotischer Sprachen und Ereignisse, die in Gedichten und kurzen Prosatexten beschrieben werden, verfasste er wenigstens seit 1914, wenn nicht sogar früher. Dass es überhaupt zur Entwicklung einer Welt und ihrer Geschichte und Geschichten kam, war seit der Kindheit in seiner Liebe zu alten Sagen und seinem unglaublichen linguistischen Talent angelegt. 1917 nun war ein Jahr langwieriger, aber nicht allzu schwerer Krankheit für Tolkien. Ein Jahr, in dem er sich erstmals ganz seiner fiktiven Welt widmen konnte. Und vielleicht spielte auch eine Rolle, dass die reale Welt ihn schwer an der Seele verwundet hatte, waren doch zwei seiner drei engsten Freunde im Krieg gefallen und er selbst hatte das Schrecknis des Grabenkriegs erlebt, ein Erlebnis, das für uns heute nahezu unvorstellbar ist, auf das ich aber erst morgen im Zuge der Biographie näher eingehen möchte. Es wäre jedenfalls nicht verwunderlich, wenn die Erlebnisse des Jahres 1916 ihn dazu gebracht hätten, eine bessere Welt als die reale zu suchen.

Doch es geht hier nicht um die Motivation, die Tolkien dazu brachte, den HdR zu schreiben. Die dürfte sich auch von der unterscheiden, die ihn dazu brachte, Mittelerde überhaupt erst zu erfinden, denn die Welt war ja schon zwanzig Jahre vor der ersten veröffentlichten Geschichte3 da und die erste veröffentlichte Geschichte war ein Kinderbuch mit nur teilweise ernsten Anklängen, während der HdR einen unglaublichen Reichtum an Ideen und Inhalten umfasst, die aus unterschiedlichen Gründen und wahrscheinlich mal bewusst, mal unbewusst eingeflossen sind.



II

Zum Verständnis der Entstehung Mittelerdes muss zunächst berichtet werden, dass Tolkiens Kindheit und Jugend von zwei Leidenschaften erfüllt war: Sagen und Sprachen.

Sagen faszinieren die meisten Kinder auf Grund ihrer Märchenhaftigkeit und der spannenden Handlung sowie dem oft tröstlich-glücklichen Ende. Das ist also nichts Ungewöhnliches, bei Tolkien ging die Faszination wahrscheinlich einfach nur ein bisschen weiter und in echte Liebe über. Und es ist interessant, dass ihn besonders die eher düsteren Sagen germanisch-nordischer Herkunft mit ihrer Tendenz zu grausamen Ausgängen interessierten: der sichere Weltuntergang – Ragnarök – und wie man dem Unausweichlichen entgegentritt, das war, was Tolkien faszinierte. Doch dazu mehr im Rahmen seiner Biographie. Die Begeisterung für das Nordische dürfte aber auch damit zusammenhängen, dass neben den Geschichten, die die Sagas erzählen, auch die Sprachen, in denen sie erzählt werden Tolkien gefangen nahmen. Shippey beobachtet, dass das Nordische in Sprache und Dichtung ihn sein Leben lang verfolgte (Shippey 2003, 15).

Sprachen als Faszinosum für Kinder sind zunächst auch nicht sehr verwunderlich. Kommunikation ist die vielleicht wichtigste Grundkonstante des menschlichen Lebens und schon Kinder fasziniert wie Sprache funktioniert und sie spielen damit herum. So ist die Erfindung neuer Sprachen als menschliche, besonders als kindliche Angewohnheit nicht ungewöhnlich, wie auch Tolkien wusste (Carpenter 2000, 143). Aus Psychologie und Linguistik weiß man, dass viele Kinder mit eigenen Laut- und Wortkombinationen experimentieren, eigene Sprachansätze entwickeln und diese 'Geheimsprachen' einander sogar vermitteln und sich dann in ihnen rudimentär unterhalten können. Wer eigene Kinder hat, wird das wahrscheinlich in mehr oder weniger ausgeprägter Form auch kennen. Jedoch geschieht dieses Sprachspiel gewöhnlich nicht in der Durchdachtheit, wie sich dies bei Tolkien ausbilden wird, der anders als die meisten Kinder auch nicht mit dem Ende der Kindheit davon absah, sich mit der Spracherschaffung zu beschäftigen. Tolkien verfügte aber auch über die besten Voraussetzungen: Er hatte erstens eine hohe Begabung zum Erlernen von Sprachen, ihn faszinierte aber auch von Anfang das intellektuelle Verstehen von Sprache, das, was man als Linguistik bezeichnet und das die Art und Weise wie Sprache funktioniert untersucht. Tolkien wollte nach Auskunft seines Biographen Carpenter schon als Schüler wissen „warum [...] Sprachen waren, wie sie waren“ (Carpenter 1979, 47) und beschäftigte sich weit über den offiziellen Lehrplan hinaus in einer Weise mit Literatur, die seine spätere berufliche Begabung erahnen ließ: die Berufung zur Philologie, was ja wörtlich übersetzt „Liebe zur Sprache“ heißt, auch wenn darunter im Allgemeinen seit den Tagen des Grimmschen Wörterbuchs das Studium vornehmlich der klassischen Sprachen und Literatur verstanden wird (zit. N. Shippey 2003, 8). Tolkien wird dabei bleiben und nach dem ersten Weltkrieg 37 Jahre lang an den Universitäten von Leeds und Oxford Lehrstühle für Sprachwissenschaften inne haben und zu einem der meist geachteten Philologen des zwanzigsten Jahrhunderts werden – ganz unabhängig von seinem Ruhm als Fantasyautor, der seine wissenschaftliche Reputation sowieso eher hindern als befördern wird.

Man kann in gewisser Weise also sagen, dass die Philologie sein Leben beherrschte. Sein Berufsleben war ihr gewidmet und sein Leben als Geschichtenerfinder ebenso. Schon als Kind beschäftigte Tolkien sich, wie erwähnt, mit Sprachen und las neben dem Englischen, Deutschen, Französischen und Lateinischen auch Alt- und Mittelenglisch, Walisisch, Altfinnisch, Altnordisch und andere, meist germanische Dialekte - nicht gerade der übliche Zeitvertreib für einen Heranwachsenden. Doch selbst diese Fülle der echten Sprachen reichten ihm nicht aus. Schon die allerersten Gehversuche in der phantastischen Literatur – Feengedichte, die Tolkien als junger Mann schrieb – verfasste er sowohl auf Englisch als auch in einer noch nicht näher benannten "Feensprache", aus der später die Elbendialekte Sindarin und Quenya werden sollten. Das war 1913-15, mehr als zwanzig Jahre vor Erscheinen des Hobbit und geht weit über das kindliche Experimentieren mit Geheimsprachen hinaus.





III

Was bedeuten Tolkiens Sprachliebe und sein linguistisches Genie nun für Mittelerde? Es wird gerne kolportiert, dass Mittelerde überhaupt nur aus dem Grund erfunden wurde, dass Tolkien seinen Kunstsprachen eine Heimat geben wollte (vgl. bspw. Noel 1980, S. 3; Day 1997, S. 10). Auch Carpenter berichtet, dass die ersten Gehversuche Tolkiens in den erfundenen Sprachen ihn davon überzeugt hätten, dass eine verbindende Geschichte nötig sei: "Wenn man einmal eine Sprache hat, braucht man auch ein Volk, das sie spricht" (1979, S. 93). Für Mittelerde gelte dann in der Tat, "am Anfang war das Wort" (Day 1997, S. 10). Das alles halte ich für Quatsch. Es ist übertrieben und es geht völlig an der eigentlichen Sache, am psychisch und spirituell begründbaren Schöpfungsakt Mittelerdes vorbei. Wenn es so wäre, dass Mittelerdes Existenz sich einzig dem Umstand verdankt, dass der Autor eine Welt erfinden musste, um seinen Sprachen Sprecher und einen historischen Hintergrund zu geben, wäre die Mittelerdedichtung nichts weiter als ein linguistisches Experiment. Das aber widerspricht allen Aussagen, die Tolkien über die Bedeutung von Fantasyliteratur gemacht hat4, die seiner Meinung nach tiefsitzende Bedürfnisse des Menschen ansprächen. Die wären dann sozusagen als Nebeneffekt mit befriedigt worden während er eigentlich Sprachspiele betrieb? Sehr unwahrscheinlich!

Was sagt Tolkien selbst zu dem Thema? Es gibt in den Briefen in der Tat Aussagen, die das linguistische Experiment auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen. Da heißt es beispielsweise einmal in einem Brief an den Verlag Houghton Mifflin, dass die erfundenen Sprachen das Fundament von Mittelerde bilden und dass die Geschichten „eher geschrieben sind um eine Welt für die Sprachen zur Verfügung zu stellen als umgekehrt“ (Carpenter 2000, 219).5 Doch was heißt das genau? 1. Die Sprachen sind das Fundament. Aber baut man Fundamente um ihrer selbst willen oder weil sie ein Haus tragen sollen und sind der Beton und die Ziegel des Fundamentes der Zwecke des Hauses? 2. ist doch der Ausdruck „eher ... als“ („rather ... than“) hier in erster Linie eine Sprachfigur, die den hohen Wert der Sprachen verdeutlichen soll – sie sind eben so wichtig, dass sie nicht einfach nur in eine bestehende Welt hinein erfunden wurden, damit die Personen dort etwas anderes als einfaches, langweiliges Deutsch sprechen. Aber sie sind doch nicht so wichtig, dass der einzige Daseinszweck der Welt die dort gesprochene Sprache ist.

In einem Brief an seinen Sohn Christopher schreibt Tolkien dann ein paar Jahre später dann: „Niemand glaubt mir, wenn ich sage, dass mein langes Buch [der HdR] ein Versuch ist, eine Welt zu erschaffen, in der eine Art von Sprache als real erscheint, die meinem persönlichen ästhetischen Empfinden entspricht“ (264).6 Die Aussage ist eindeutig, aber ich glaube sie trotzdem nicht. Denn man kann den Briefschreiber nicht auf jedes Wort festlegen, gibt er doch an anderer Stelle auch andere Gründe an. Etwa wenn er gegen Ende seiner Arbeit am HdR an seinen Verleger schreibt, dass es ihn schmerze, dass sein geliebtes England über keinen eigenen auf Sagen und Mythen gründenden kulturellen Hintergrund verfüge und er ihm sein Werk am liebsten als einen solchen widmen wolle (vgl. Carpenter 2000, 144).7 Ein halbes Jahr vor Veröffentlichung des HdR heißt es dann, dass die Trilogie „natürlich ein fundamental katholisches Werk“ sei, anfangs zwar nur unbewusst, im weiteren Entstehungsverlauf dann aber mit voller Absicht in diese Richtung überarbeitet (172).8

Es gibt also mindestens drei Anstöße, die man für die Entstehung von Tolkiens Kosmos benennen kann und wenn man den Aufsatz On Fairy Stories hinzuzieht, kommen noch eine Reihe weiterer möglicher Gründe hinzu, die Tolkien nach eigener Aussage in diesem Aufsatz ebenfalls motiviert haben, die hier aber nicht das Thema sein sollen.



IV

Es geht jedoch jetzt primär um Sprache, denn mit ihr wird die literarische Welt erschaffen. Das trifft natürlich für jeden Autor fiktionaler Werke zu. Aber man kann wohl widerspruchslos behaupten, Tolkien habe ein intensiveres und anders geartetes Verhältnis zum 'Baustoff' seiner Welt gehabt als die meisten anderen Autoren. Es ist doch trotz der Ablehnung der These von der Herkunft Mittelerdes aus dem Sprachspiel so, dass Sprache einen besonders hohen Stellenwert hat und dass sie einen im Vergleich zu anderen Autoren für Tolkien einzigartigen Stellenwert aufweist. So zeigt beispielsweise der Germanist und ausgewiesene Werkkenner Helmut Pesch mit Nachdruck und zu Recht, dass selbst die Geschichte Mittelerdes eine ihrer Sprachen ist und auch an der Entwicklung der von Tolkien erfundenen Sprachen abgelesen werden kann (vgl. Pesch 2003, 20). Mittelerde ist mit Worten erschaffen worden und in der Entwicklung eines Teiles dieser Worte, nämlich der erfundenen Elbensprachen kann man die Geschichte der Elben, die das Erste und Zweite Zeitalter der Welt dominieren ablesen. Die Auseinanderentwicklung der beiden Elbendialekte Quenya und Sindarin zu zwei untereinander nahezu unverständlichen Sprachen (vgl. Shippey 2001, 230f.), spiegelt den Zwist zwischen den verschiedenen Elbenstämmen und ihrer führenden Familien wider, entwickeln sich doch während der 'Völkerwanderungen' der Elben die beiden Dialekte und zahlreiche, ebenfalls von historischen Entwicklungen abhängige Unterdialekte, wie die vor dem HdR spielenden Geschichten aus dem Silmarillion berichten. Ähnliches gilt übrigens für die Menschensprachen wie etwa die Sprache der Rohirrim, auch diese weist eine an die Geschichte des Volkes gebundene Entwicklung auf. Im Gegensatz zur Geschichte der Elben ist diese Entwicklung allerdings für den Fortgang der Geschichte nahezu bedeutungslos. Trotzdem investiert Tolkien Zeit und Überlegung in einen Aspekt, den die Erzählung nicht braucht und der kaum einem Leser auffallen dürfte. Warum? Das wird klar, wenn man die folgende Überlegung einbezieht.

Ein weiterer Punkt, der bei der Betrachtung der Sprache in Mittelerde wichtig wird, ist, dass Tolkien nicht nur erfundene Sprachen verwendet. Er bezieht die reale Welt der alten, vergessenen, aber einmal von wirklichen Menschen benutzten Sprachen permanent ein. Quenya und Sindarin sind originär von Tolkien erfundene Sprachen. Aber selbst die erfindet er nicht ohne einen Bezug auf Bekanntes (und das ginge ja auch gar nicht). So sind Quenya und Sindarin in Lautmalerei und Grammatik dem Finnischen und Walisischen recht ähnlich. Finnisch und Walisisch / Quenya und Sindarin – das sind schöne Sprachen, es sind fremde, exotisch klingende und wirkende Sprachen, aber als Sprachen sind sie authentisch und erzeugen real wirkende Momente in der Fiktion. Die Authentizität gewinnen sie allerdings nur, weil Tolkien so viel mehr Arbeit hineinsteckte als nötig gewesen wäre und komplette Sprachen erfand, in denen man sich wirklich unterhalten könnte. Und es gibt eine weitere Form des Sprachgebrauchs in der Mittelerdedichtung. Andere Sprachen Mittelerdes weisen nämlich nur einen geringen Eigenanteil Tolkienscher Spracherfindungskunst auf und sind ansonst unserer Geschichte entnommen. So etwa das Rohirrische, die Sprache von Théoden und den Reitern von Rohan: Sie besteht zum größten Teil aus unverfälschtem Altenglisch. An anderen Stellen sind die Bezüge nicht ganz so ausgeprägt, aber die Namen der dreizehn Zwerge, mit denen Bilbo im Hobbit ins Abenteuer zieht, sind beispielsweise unverändert von Personen aus der Edda übernommen worden. Rückverweise auf die reale Welt entstehen auch durch direkten Griff in die menschliche Kulturgeschichte. Und die sind bewusst und zielgenau gesetzt, immer so, dass größtmögliche Wirkung beim Leser erhofft werden kann. Dieter Petzold schreibt zu Recht, dass einer der Unterschiede zwischen Tolkien und Mainstream-Fantasy darin besteht, dass moderne Fantasyautoren einfach nur ein ath, -eth oder -oth an beliebige Namen hängen und meinen, damit schon einen Teil ihrer Weltschöpfung geschafft zu haben (Petzold 2005).

Unterstützt wird die den Realismus steigernde Wirkung durch die geschickte Art und Weise wie die Sprachen eingesetzt werden. Soviel Elbisch – oder Zwergensprache, Rohirrisch oder gar die Schwarze Sprache Mordors – ist aber auch gar nicht im HdR zu lesen. Der Einsatz erfolgt sparsam, aber bewusst und wirkt deshalb vielleicht um so mehr: die Sprachen erscheinen in Grußformeln, Anrufungen, Ritualen, sie sind schmückendes Beiwerk von auf Deutsch erzählten Geschichten und Liedern.

Und es gibt eine weitere Wirkung der tolkienschen Sprachen, denn sie weisen eine eigene Ästhetik auf. Dem Gebrauch der verschiedenen Sprachen, in Form von Gedichten, Ausrufen und Zitaten merkt man die Liebe des Philologen Tolkien zu Sprachen an. Helmut Pesch bemerkt zu Recht, Tolkien habe ein sinnliches Verhältnis zur Sprache gehabt. Tolkien schrieb selbst dazu, dass ihm der HdR auch dazu diene, seine "persönliche Ästhetik" auszudrücken (Carpenter 2000, 264).

In den Geschichten aus Mittelerde drückt sich dieses ästhetische Empfinden dann auch darin aus, dass Sprache zur Charakterisierung der Sprecherinnen und Sprecher eingesetzt wird: Das Wesen der Völker (zumindest im HdR) drückt sich oft schon in den Sprachen aus, die sie sprechen. Die Sprache der Elben ist licht, offen und besitzt einen melodischen Charakter, während die black language von Mordor dunkel, abgehackt und verschlossen wirkt. Man bekommt einen ganz guten Eindruck davon, wenn man folgende Sätze einmal laut vorliest, auch ohne dass man den Inhalt der Verse versteht:

A Elbereth Gilthoniel / silivren penna miriel / o menel aglar elenath! ("th", scharf aussprechen wie in "bath").

Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul / ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul ("z" als weiches "s" wie in "satt" aussprechen).

Der Klang des zweiten Verses wird im HdR als "drohend, kraftvoll und hart wie Stein" beschrieben. Die Wirkung des lautmalerischen Effekts entsteht durch eine Lautverteilung, die anders ist als im Englischen (oder Deutschen) und so in realen Sprachen nicht vorkommt, die in der Regel viel heterogener sind: In der Sprache der Elben dominieren Konsonanten, die 'offen' und 'klingend' wirken wie "f", "v", "th" (Frikative) oder "n", "m" (Nasale) und "l", "r" (Laterale), während 'dunkel' klingende Konsonanten wie "g" und "k" (Gutturale) nur selten vorkommen. Genau umgekehrt ist die Situation bei der black language, in der als Vokale denn auch "a" und "u", vor den offener klingenden Buchstaben "e" und "i" überwiegen, die die Elbensprache wiederum reichlich bietet. Sehr viel ausführlicher ist dies bei Helmut Pesch in dessen Aufsatz "J.R.R. Tolkiens linguistische Ästhetik" beschrieben, dessen Ausführungen ich in diesem Absatz zusammenfasse. Die Sprachen dienen nicht nur der Illustration von Personen und Völkern. Außerdem zeigt sich die persönliche Ästhetik Tolkiens in der Verbindung von Sprache und Charakter der Sprechenden. Die Elben stellen auf einer gedachten Skala abnehmender Schönheit sozusagen den Höhepunkt dar, während die Orcs am unteren Ende stehen. Die Sprache der Elben lädt geradezu zum Singen ein, während die black language nur zum Knurren und Fluchen taugt.

Neben den gesprochenen Zungen hat Tolkien um der Authentizität seiner Sprachen willen außerdem übrigens noch eigene Schriftsprachen mit Runen und Schriftzeichen kreiert. Er war neben seiner vorherrschenden Eigenschaft als Literat auch ein nicht unbegabter Maler und Zeichner, der auch hiermit überzeugende Arbeit leistete und die Tiefe seiner Geschichten nochmals um ein kleines Quantum erhöhte. Die Schriftzeichen erinnern mich in ihrer flüssigen Leichtigkeit an das Hebräische und Arabische, während die mittelerdischen Runen eng an der nordischen Runenschrift orientiert sind.

Wie die Beispiele der Historizität von Sprache, der Rückbezug auf die alten, aber 'echten' Sprachen der realen Welt und die Sprachästhetik in Mittelerde zeigen, ist die Sprache eben nicht nur der Stoff, aus dem Mittelerde geschneidert ist. Was ist dann aber ihre besondere Bedeutung? Meiner Meinung nach verleihen der Sprachgebrauch und seine Entwicklung sowie die daran auf so unaufdringliche, ja unauffällige, aber realistische Art gebundene Geschichtlichkeit der Geschichte das entscheidende Moment von Tiefe, das die einzigartige Stellung der Mittelerdedichtung mitbegründet. Dies wird natürlich auch durch eine ganze Reihe anderer und kaum wenig meisterlicher erzählerischer Kunstgriffe gestützt. Die detaillierte Beschreibung von Landschaft und Bevölkerungen, die akribisch aufeinander abgestimmten Details, der sich in drei Handlungsstränge aufteilenden Geschichte (wenn Aragorn nach am Stein von Erech einen Vollmond erblickt, so kann man sicher sein, dass dieser mehrere Kapitel vor- und nachher zur gleichen Zeit auch über den Köpfen von Gandalf und Pippin oder Sam und Frodo scheint) – all dies trägt in ähnlicher Weise zur Tiefe und zum Realismus der Geschichte bei wie dies Sprache und sprachvermittelte Geschichtsschreibung tun. Doch zurück zur Bewertung der Rolle eben dieser Sprache. Nicht die Entstehung Mittelerdes als Ort für ästhetisch motivierte Sprachspiele – oder eben nicht! - ist das Alleinstellungsmoment der Rolle von Sprache in Mittelerde, sondern ihre besondere Bedeutung in den Büchern – und die hängt vom sprachlichen Genius des Professors ab: „Von einigen Dingen wusste Tolkien einfach mehr und hatte tiefer drüber nachgedacht als jeder andere Mensch der Welt“ (Shippey 2001, ix).9




V

Zum Schluss nur ein paar Bemerkungen zu den im Rahmen der Mittelerdedichtung erfolgten Publikationen. Das wichtigste Buch neben dem HdR ist zweifellos das Silmarillion. Das S ist allerdings viel weniger eine zusammenhängende Erzählung als der HdR. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Ansammlung von Fragmenten, die in der vorliegenden Form von Tolkien selbst gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren und die er vor und nach Erscheinen des HdR verfasste. Das S erzählt von der Erschaffung Mittelerdes und seiner Geschichte bis zu den Geschehnissen, die zum Ringkrieg führen. Bei aller Größe der Ereignisse, die im HdR berichtet werden, erscheinen sie vor der Geschichte des S doch nur als eine Facette im ewig dauernden Kampf zwischen Gut und Böse. Im S sind die Heere zahlreicher, die Schlachten blutiger und die gebrachten Opfer größer. Und der Beginn des S mit der tolkienschen Schöpfungsgeschichte sowie die Erzählung von Eärendils Zorn weisen darauf hin, dass der Kampf bis zum Ende aller Tage, also auch nach dem Ende des Ringkrieges, weitergehen wird: "... von Zeit zu Zeit treibt [das Böse] neue Sprossen und wird [seine] dunkle Frucht tragen bis zum letzten Tage" (S, 282). Trotzdem stellt der HdR aufgrund seiner inneren Geschlossenheit natürlich die fesselndere Geschichte dar.

Salopp könnte man sagen, dass die beiden Bände mit den verlorenen Geschichten aus Mittelerde Lost Tales und Unfinished Tales und im Weiteren dann die zwölf Bände der History of Middle-earth nichts weiter als mehr dessen bieten, was auch im S steht. Das stimmt allerdings nicht ganz, denn diese vierzehn Bücher bieten zwar in der großen Mehrheit 'nur' Versionen der aus dem S bekannten Geschichten, sie gehen aber in zweierlei Hinsicht darüber hinaus.

Erstens enthält die History auch ein paar andere Geschichten, die in eher losem Zusammenhang mit Mittelerde stehen aber trotzdem das Verständnis dieser Welt und seines Autors erhellen. Am wichtigsten sind in dieser Hinsicht die beiden Zeitreisegeschichten The Lost Road und The Notion Club Papers, die, wie die gesamte History of Middle-earth nicht in deutscher Sprache vorliegen. Sie sind in psychologischer Hinsicht interessant weil sie Vater-Sohn-Verhältnisse in den Mittelpunkt stellen, was bei einem Autor, der seinen Vater im Alter von knapp vier Jahren verliert, aufschlussreich sein kann. Sie sind im konkreten Hinblick auf Mittelerde interessant, weil sie beide von Personen erzählen, die über eine Mischung aus Traum und Zeitreise nach Mittelerde gelangen. Allerdings sind beide Geschichten nicht beendet, was viel Anlass zu Rätseln gibt.

Zweitens sind auch die Vor- und Alternativversionen von Ereignissen aus dem S – aber auch dem HdR – von Interesse für das Verständnis der Ringtrilogie, weil sie ein Licht darauf werfen, was auch hätte sein können. Das nämlich lässt wiederum Rückschlüsse auf die Bedeutung von Einzelaspekten zu, wenn man sieht, wie oft sie geändert wurden oder dass einige Motive von Anfang feststanden und nie variiert wurden, etwa der Kern der anrührenden Liebesgeschichte von Beren und Luthien, während der hehre König Aragorn ursprünglich ein kauziger Hobbit namens Trotter war.

Eine weitere Erzählung aus Mittelerde ist die schon erwähnte Geschichte Der Hobbit. Sie spielt direkt vor den Ereignissen, die im HdR beschrieben werden und führt einige der Akteure sowie den Ring selbst ein. Sie ist fast so berühmt geworden wie die Ringtrilogie selbst – und das aus eigener Kraft, da sie von Anfang an, also achtzehn Jahre vor dem Erscheinen des HdR ein Erfolg war (und letztlich den Verleger Stanley Unwin dazu brachte, Tolkien zum Verfassen einer Fortsetzung zu drängen, aus der der HdR werden sollte). Der Hobbit wurde beispielsweise in der Times 1938 in einer Rezension mit Wind in den Weiden und Alice im Wunderland auf eine Stufe gestellt (Anderson 2003, 20). Der Hobbit weist noch nicht die epischen Ausmaße der großen Erzählung auf und ist auch eher als Kinder- und Jugendbuch geschrieben. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine wunderschöne, gar nicht so kleine Geschichte. Eine Geschichte zudem, die gegen Ende den leichten Kinderbuchcharakter fast völlig verliert und eine große Ernsthaftigkeit und Moralität aufweist, die sich ausgeprägter auch nicht in der Trilogie findet. Die Geschichte entwickelt sich dann übrigens nicht nur in Richtung Ernsthaftigkeit, sondern auch in Richtung Realismus und zwar mit den oben für die Trilogie beschriebenen Mitteln.

Doch was sage ich, lest selbst – den HdR zum ersten Mal oder wieder und Hobbit, Tales, History usw. ... es lohnt sich.



1 Offiziell heißt aber nicht, dass Tolkien das Silmarillion publiziert hätte, es ist erst nach des Autors Tod von seinem Sohn Christopher aus den erzählerisch überzeugendsten Versionen zusammengestellt worden.

2 Zur Tiefe der Historie von Mittelerde vgl. bes. die analysierenden Darstellungen bei Shippey (2001, u. 2003, wobei Shippey 2003, The Road to Middle-earth das etwas umfassendere aber auch anspruchsvollere Werk ist. Zur Geographie Mittelerdes vgl. Fonstad 1994. Einen guten Eindruck von der Komplexität Mittelerdes erhält man auch durch das bloße Blättern in Schneidewinds Das große Tolkien-Lexikon (Schneidewind 2001). Eine gute Einführung in das Hauptwerk bietet auf knappem Raum auch Petzold 2005.

3 Der ersten veröffentlichten Geschichte aus Mittelerde natürlich. Veröffentlichungen, auch fiktionalen Inhalts gab es von Tolkien schon vor 1937. Vgl. Bertenstam 2002 für eine chronologische Übersicht von Tolkiens Veröffentlichungen.

4 Ja, ja – er benutzte den Ausdruck Fantasy nicht, ich weiß. Er konnte ihn gar nicht benutzen, denn er war noch nicht erfunden worden – wie auch, er begründete die Fantasy ja erst (wie man provokant mit Shippey sagen könnte (vgl. Shippey 2003, 377) – als er die wichtigen Ausführungen über den Stellenwert und die Bedeutung der phantastischen Feiengeschichten 1937 in On Fairy Stories niederlegte (Tolkien engl. 1988, dt. 1982).

5 „The invention of languages is the foundation. The 'stories' were made rather to provide a world for the languages than the reverse.“ (Carpenter 2000, Letter No. 165, 219). Die anderen, mir bekannten Stellen, die ähnliche Aussagen beinhalten, sind zu finden in: Letters No. 163, 205, 294, 297 u. 324.

6 „Nobody believes me when I say that my long book is an attempt to create a world in which a form of language agreeable to my personal aesthetic might seem real“ (Carpenter 2000, Letter No. 205, 264).

7 Aus dem berühmten, das Werk erklärenden Brief an Milton Waldman, letter No. 131. Er ist sich aber schon in diesem Brief klar, dass dieses Ziel zu hoch gesteckt ist.

8 „The Lord of the Rings is of course a fundamentally catholic work; unconsciously so at first, but consciously in the revision“ (Carpenter 2000, Letter No. 142, 172; meine Hvhbgn.)

9 „On some subjects Tolkien simply knew more, and had thought more deeply, than anyone else in the world“ Shippey 2001, ix).

Literatur

(Bochum 9/´05)