John Ronald Reuel Tolkien - das neue Element in der Fantasy

© Frank Weinreich

Raymond Feist sagt über Tolkien, er sei der "Großvater" aller Fantasyautoren (Feist 2004). Wie und warum das? Ich denke, dass mit den Geschichten aus Mittelerde, den kleinen wie den großen, ein neues Element in die Fantasy, in die phantastische Literatur eintritt, die Tolkien wirklich zu einem echten Auslöser macht, zum Großvater einer ganzen literarischen Familie, auch wenn er natürlich in einer Tradition steht, die über die Antike, das Mittelalter, die Romantik und die ersten 'echten' Fantasyerzählungen eines William Morris oder Lord Dunsany zu ihm reicht. Und weil er in dieser Tradition steht und er ein außerordentlicher Erzähler ist, nennt die die Literaturexpertin Fanfan Chen ihn einen "modernen Homer" (Chen 2007, 228) und vergleicht ihn so mit dem vielleicht berühmtesten und einflussreichsten Dichter. Tom Shippey sagt dazu: "His example created a genre almost single-handed" (Shippey 2003, 377) und die bedeutenden Fantasyautoren Geogre R.R. Martin, S.M. Sterling, Melinda Snodgrass, Ty Franck, Walter Jon williams und Daniel Abraham stellen in einer gemeinsamen Erklärung fest: "Love him or hate him, his work is the touchstone of modern fantasy, and pretty much everything since is either an homage or a critique" (Abraham 2007).Was aber ist das auslösende Moment, das dies vermochte? Es ist dies ein Element, das sie einerseits entscheidend umgestalten wird und sie andererseits lebensnäher macht und deshalb vielleicht notwendig wurde.



I

Fantasy, so meine ich, das sind Geschichten, in die man eintauchen muß, um ihren Zauber erleben zu können, das sind Geschichten die man erleben muß, als sei man dabei, wenn man ihre gesamte Wirkkraft erfahren will. Ein meiner Meinung nach entscheidendes Element für die Er- und Mitlebfähigkeit von Fantasy ist erst von Tolkien eingebracht worden und führte damit zu einer Rezeptionsweise, die ohne ihn nicht möglich wäre: seit Tolkien sind es Menschen, die die Geschichten erleben, ganz egal ob sie nun Halbling, Zwerg, Ent oder Mensch heißen. Sie handeln edel oder plump, clever oder dumm, sind tapfer oder feige, großspurig oder unauffällig, alles auf einem höheren Niveau als im wahren Leben am Küchentisch, aber es sind Menschen und damit sind sie identifikationsfähig.


Und das ist etwas Neues im Genre. Wenn man die Fantasy bei den Sagen der Antike beginnen läßt, was meiner Meinung nach erforderlich ist, so begegnet man seit den Anfängen eher Klischees und Götzenbildern in ihnen als echten Charakteren. Achilles hat seine Sehne und Siegfried fiel dieses dumme Blatt auf den durchtrainierten Rücken, aber ansonst sind sie in allen Belangen sehr viel 'bigger than life' und ihre Taten erst recht. In der Tolkien zeitgenössischen Fantasy ist das nicht viel anders. Da schwärmt E. R. Eddings im "Wurm Ouroboros" von der mythopoetischen Kraft des Krieges, da durchstreift ein in allen Belangen herkulischer Dray Prescott die Wälder von Antares. Wohin man in der Fantasy bis in die fünfziger Jahre schaut, überall Gestalten als wären sie von Nietzsche erfunden worden.


Dies wird von Tolkien durchbrochen, ja geradezu auf den Kopf den gestellt: da wird das wertvollste Juwel des Universums, einer der Silmaril, von einem schwachen Sterblichen gewonnen, eine Aufgabe an der vorher die Götter selbst gescheitert sind. Da wird das Schicksal Mittelerdes, der eine Ring, in die Hände eines bäuerlichen Charakters mit der Statur eines Kindes gelegt - und das Kind erfüllt eine Aufgabe, an der wiederum übermenschliche Charaktere wie Gilgalad und Elendil scheiterten. Des Autors Freund C.S. Lewis, selbst ein berühmter Schriftsteller, äußert dazu: "And all the time we know that the fate of the world depends far more on the small movement than on the great. This is a structural invention of the highest order" (Lewis 2004, 12). Auch Tolkien selbst bestätigt diese Einschätzung in einem äußerst wichtigen, das Werk erklärenden Brief an seinen Verleger Milton Waldman folgendermaßen (das Original ist abgedruckt in: Letters of J.R.R. Tolkien, 143 - 161, Übersetzt und separat abgedruckt in Pesch (Hrsg.): Tolkien - der Mythenschöpfer. 1984):
"Hier [gemeint ist die Geschichte von Beren und Luthien] begegnet uns unter anderem das erste Beispiel für das (mit den Hobbits dann beherrschend werdende) Motiv, das bei den großen Entscheidungen der Weltgeschichte, 'im Räderwerk der Welt', oft nicht die Großen und Mächtigen, nicht einmal die Götter den Ausschlag geben, sondern die scheinbar Schwachen und Unberühmten" (Tolkien in Pesch 1984, 34)

Und Mittelerde ist nicht nur eine Welt, die von 'Menschen' wie uns bevölkert ist und sie vor Aufgaben stellt, die auch für uns nicht vollkommen oder prinzipiell unmöglich wären, es ist auch eine Welt wie die unsere in dem Sinne, dass die Bewohner Mittelerdes unter den gleichen bedingungen leben wie wir. "The forces that form th lives of the dwellers in Middle-earth are the same that make our lives - history, chance and desire" schreibt der Fantasyautor Peter S. Beagle (Beagle 1966, X) und hebt dann als Grund für den Erfolg der Mittelerdedichtung die besondere Beziehung Tolkiens zu seiner Schöpfung hervor: der Autor glaubte an und lebte in Mittelerde ("I believe that Tolkienhas wandered in Middle-earth"; XVI). Diese Ansicht vermag den phantastischen Realismus dieser Welt vielleicht wirklich am besten zu erklären ...



II

Noch ein zweites neues Element findet sich im Herrn der Ringe, das wiederum in enger Verbindung zum ersten steht: den Gemeinschaftsgeist; Tolkien erfindet die Abenteurerparty. Das ist neu, weil ehedem der Einzelkämpfer vorherrscht. Das wird nicht immer so deutlich wie bei Herakles, der seine Aufgaben ja ausdrücklich alleine zu erledigen hat, aber auch die Helden, die Troja angreifen, handeln nicht als Gemeinschaft, sondern als eifersüchtiger Haufen geltungsbemühter Narziße. Analoges gilt für die moderne Fantasy bis zu Tolkien, schlag´ nach bei Howard´s Conan der Barbar. Im Ring-Zyklus nun wird eine Gruppe auf die Beine gestellt, die ihre Aufgabe nur erledigen kann, wenn sie gemeinsam und uneigennützig handelt. Das gilt meiner Meinung nach sogar gerade da, wo die Gruppe zerrissen wird und Merry und Pippin, Aragorn, Gimli und Legolas und Sam und Frodo jeweils alleine losziehen müssen. Auch hier greift noch alles ineinander: Der dunkle Herrscher bemerkt Frodo und Meister Samweis nur deshalb nicht, weil er von den Kämpfen um Minas Tirith abgelenkt wird, Minas Tirith kann sich am entscheidenden Tag nur halten, weil die Reiter von Rohan eingreifen und Aragorn die Verstärkung durch die Corsaren von Umbar verhindert, die Rohirrim und Aragorn wiederum hätten nie eingreifen können, wenn Merry und Pippin nicht die Ents gegen Saruman ins Felde geführt hätten. Letztlich greift auch das Grundmotiv des Herrn der Ringe die Gemeinschaftsidee auf: Sauron wird nur besiegt, weil er sich einfach nicht vorstellen kann, daß ein Kollektiv zusammenarbeitet, aus dem sich keiner als Ringträger zum Führer aufschwingt: "he is incapable of anticipating the policy adopted by his enemies" (Fuller 2004, 22).



III

Sonst finden wir nun nicht soviel Neues bei Tolkien, denn natürlich griff er "in starkem Maße auf unser [aller] literarisches und kulturelles Erbe zurück" (Anderson 2004, 44; vgl. zu den Quellen Tolkiens bes. Shippey 2003). Das ist nun weder hier noch bei Anderson oder gar Shippey als Kritik gemeint. Literarisch besticht das Werk aber eben - außer natürlich den genannten Punkten - nicht unbedingt durch seine topologische Innovationskraft, sondern durch seine Kohärenz. Da stimmt jedes Detail und Tolkiens Biograph Humphrey Carpenter merkt an, daß sich Mittelerde weniger wie ein Roman, denn wie ein Geschichtsbuch liest. Tolkien selbst sagte, daß er keine Geschichten erfinde, sondern eine Chronistenpflicht erfülle. In die gleiche Richtung geht seine Bemerkung, daß er, wenn er denn doch einmal auf Ungereimtheiten in seinen Geschichten angesprochen worden sei, er dies nicht etwa korrigiere, sondern nachforschen müsse, was denn nun an dieser Stelle wirklich passiert sei. Er schreibt: "und doch behielt ich immer das Gefühl, etwas, das "irgendwo" schon "da" war, aufzuzeichnen - nicht zu "erfinden" (Tolkien in Pesch 1984, 28). So stellt sich denn auch die Aufnahme von Motiven aus unserem gemeinsamen literarischen und kulturellen Erbe denn auch nicht als Manko dar, werden sie doch in höchst überzeugender Weise neu zusammengestellt: "Tolkien´s background in folklore and philology ground Middle-earth in an imagined and yet plausible English landscape, and lend realism to an entire system of vocabulary and naming, but the tales he spins are wholly new and separate constructions" (Mortimer 2005, 116; meine Hvhbgn.).


Die Motive, die der Professor uns präsentiert, sind in der Tat größtenteils keine tolkienschen Originale. In den Gestalten und in den Inhalten begegnen uns Figuren wieder, deren Herkunft meist recht einfach herzuleiten ist. Zwerge, Drachen, Orcs, Halblinge, Trolle, dies alles sind Wesen, die wir aus Märchen und Sagen oder anderer phantastischer Literatur kennen. Einzige Ausnahme sind die Elben, die nur dem Wort nach den klassischen Elfen der Sagen entsprechen (vgl. Shippey 2004 zu ihrer literarischen Herkunft). Sie sind in Mittelerde sehr viel weniger Menschen bzw. menschenähnlich, als vielmehr ein von Tolkien verehrtes Prinzip. "Ihr Zweck ist Kunst und nicht Macht, Zweitschöpfung und nicht Bezwingen und tyrannisches Re-Formieren der Schöpfung" so schreibt Tolkien an Milton Waldman (Tolkien in Pesch 1984, 30). Die Elben sind selber Kunst und das auch sie so furchtbar fehlgehen können wie etwa Feanor, der Kunstfertigste unter ihnen, ist mehr ein Beweis der Kraft des Bösen als eine Vermenschlichung dieser im eigentlichen Sinne gar nicht echten Lebewesen.
Auch die Inhalte der Geschichten, sind bei aller künstlerischen Eigenständigkeit des Silmarillion, des Hobbits und des Herrn der Ringe dem Autor nicht losgelöst von seinem historischen und sozialen Hintergrund eingefallen. Der Schöpfungsmythos des Silmarillion ist beispielsweise, obwohl der Autor dies ausdrücklich bestritten hat, natürlich doch christlichen Ursprungs. Es ist zwar eine originelle Idee, das Universum als Melodie darzustellen, trotzdem finden wir alles was die christliche Lehre ausmacht. Den Schöpfergott, die Engel, einen Teufel, den Sündenfall. Das verwundert nicht bei einem dermaßen religiösen Menschen wie Tolkien. Allerdings will ich nicht verschweigen, daß Tolkien sich der Analogien natürlich auch selbst bewußt war und seine Distinktion zur christlichen Mythologie mit einer Unausweichlichkeit des christlichen Mythos begründete. Natürlich erinnere seine Version von der Erschaffung des Universums und vom Beginn allen Übels an die christliche Erzählung, so unser Autor, aber doch nur, weil es eine Geschichte ohne Sündenfall doch gar nicht geben könne (Tolkien in Pesch 1984, 32). Aus dem Aufsatz "Über Märchen" können wir ablesen, daß Tolkien unsere reale Welt in der Tradition des christlichen Gedankens als ebenfalls dem Sündenfall unterliegend ansieht (S. 56). Auch den phantastischen Zweitschöpfungen der Märchen gesteht er anscheinend nicht zu, sich davon befreien zu können.


An anderer Stelle hat Tolkien selbst darauf hingewiesen, daß die Geschichte von Mittelerde sich an irdischen Sagen orientiert. So schreibt Tolkien über die Episode die 'Kinder Hurins', daß sie sich "teilweise von Sigurd dem Völsungen, von Ödipus und dem finnischen Helden Kullervo herleitet". Und in der schönsten Geschichte des Silmarillion, der Erzählung von Luthien Tinuviel und Beren Halbhand, finden wir das ewige Motiv der verbotenen Liebe wieder, das spätestens seit Shakespeares Romeo und Julia Allgemeingut ist, nur das diese Geschichte auf eine ganz andere Weise tragisch endet. Auch das gewaltige Motiv des Krieges als einer in den verschiedenen Zeitaltern von Mittelerde immer wieder konstitutiv wirkenden Urgewalt hat Vorbilder in der Sagenwelt. Das letzte Eingreifen der Valar in die Geschicke von Mittelerde, als Morgoth endgültig in die Leere verbannt und Valinor den Kreisen der Welt entrückt wird, hat in meinen Augen viel mit der Götterdämmerung Ragnarök aus der Edda zu tun. Nur diesmal mit positivem Ausgang, weshalb Interpretationen des Silmarillions als wagnerische Endzeitüberhöhung hier definitiv fehl am Platze sind. Schließlich ist diese Geschichte nur ein Detail aus der endlosen Geschichte Mittelerdes.



Durch diese Überlegung soll das schöpferische Werk Tolkiens in keiner Weise bezweifelt werden, ich will nur daran erinnern, daß auch Tolkien in einer Tradition steht und daß sich diese Tradition nachweisen läßt. Die Identifizierung fremder Motive in einem literarischen Werk hilft sehr viel bei seinem Verständnis und ermöglicht es oft erst, dieses einzuordnen.



IV

Unser Autor war äußerst bewandert in der Welt der Sagen und Mythen. Und wir dürfen annehmen, daß das eigentliche Motiv seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein im echten Sinne des Wortes mythopoetisches war. Eine Aufgabe an der er scheitern mußte, einmal weil man im 20. Jahrhundert so keine Mythen schaffen, sondern nur Geschichten erzählen kann, zum anderen, weil Mythen durch einen gewissen Halbglauben an ihre eventuelle Wahrheit wachsen müssen. Die reine Zweitschöpfung der Erzählung vom Herrn der Ringe steht zu weit abseits unserer Realen Welt als daß sie die anleitende, belehrende und warnende Funktion, die die mythische Geschichte für unser reales Leben beansprucht, einnehmen könnte.


Nichtsdestotrotz schreibt Tolkien in dem schon mehrfach zitierten Brief an Waldman:

[es] "schmerzte mich von Kindheit an die Armut des eigenen lieben Vaterlandes: Es hatte keinen Eigenbesitz an (auf seinem Boden und in seiner Sprache heimischen) Geschichten [...]. Es gab Griechisches, Keltisches, Romanisches, Germanisches, Skandinavisches und finnisches [...] aber nichts Englisches, bis auf heruntergekommenes Zeug in den Volksbüchern" (Tolkien in Pesch 1984, 27; vgl. dazu bspw. Shippey 2003, 38-41).


Das konnte so nicht funtkionieren, wahrscheinlich wußte er das auch. Was aber hat er dann erreicht?


Nun, meiner Meinung nach ist er der wichtigste Autor der Fantasy geworden. Mit dieser Meinung stehe ich auch nicht alleine da. Nach einer Untersuchung des Magazins US News and World Report vom März 1990 zählen der Kleine Hobbit und der Herr der Ringe zu den 20 meistverkauften Büchern aller Zeiten und Tolkien ist der einzige Autor der mit zwei Werken auf dieser Liste steht (zit. n. Collins 1992, 101). Im Herbst 1999 läuft im Internet eine Abstimmung, welches das wichtigste Buch des Jahrhunderts sei. Tolkien liegt als ich diese Worte schreibe mit dem Herrn der Ringe auf Platz zwei und mit dem Kleinen Hobbit auf Platz vier und ist auch hier der einzige Autor mit zwei Büchern unter den ersten zehn [Nachtrag 2004: gerade wurde der HdR zum "beliebtesten Buch der Deutschen" gewählt]. Unzählige Andere schreiben bewußt oder unbewußt von ihm ab. Und dies leider meist auf einem deutlich niedrigeren Niveau, so etwa Terry Brooks, dessen Shannara-Zyklus erst nach drei Trilogien langsam an Eigenständigkeit gewinnt. Nur ganz wenige Autoren, etwa Raymond Feist und sein Midkemia oder Tracy Hickman und Margaret Weis mit der Dragonlance-Saga stehen in engster tolkienscher Tradition und weisen in ihrem Werk trotz enger Verwandschaft stilistische und inhaltliche Autonomie und annähernd tolkiensche Qualität auf. Wäre Tolkien nicht schon gewesen, würden sie eventuell literaturkritische Beachtung finden, nach ihm mußten sie jedoch Mainstream werden. Alle anderen wirklich bedeutenden Werke aus dem Bereich der Fantasy-Literatur - und das sind verdammt wenige - weisen andersgeartete Strukturen auf und intendieren vor einem phantastischen Hintergund meist eine sehr weltliche Erklärung irdisch-menschlicher Antriebsmuster, so etwa der überragende Erdsee-Zyklus von Ursula K. LeGuin und Patricia McKillips die "Vergessenen Tiere von Eld". Einen weniger tiefschürfenden aber dafür sehr unterhaltsamen Spiegel menschlichen Verhaltens in einer Fantasy-Welt hält uns Anne MacCaffrey im Pern-Zyklus vor. Ein Beispiel für in höchstem Maße psychologisierende Fantasy ist der Silbermantel-Zyklus von Guy Gavriel McKay. Eine bemerkenswerte Erweiterung hat das Genre durch Tad Williams Otherland-Zyklus erfahren, der mit seiner Interpretation der Verbindung von Fantasy und Science Fiction eine großartige Questenerzählung abgeliefert hat. Nebenbei gesagt: Williams zitiert ausdrücklich und respektvoll Motive aus dem Herrn der Ringe und hat in das Ende seines Zyklus eine besonders liebvolle Hommage an Tolkien eingebaut: Der neue Wächter seines Universums nimmt Tom Bombadils Haus als seinen Wohnsitz an.

V

Allegorisierung und Psychologisierung liegt Tolkien jedoch fern. Er will Ideale transportieren, keine Probleme. Seine Werke sind "Zweitschöpfung" wie er es nennt. Das bedeutet, das er durch und durch andere Welten schaffen will, die mit der primären, unsrigen Welt keine direkten Berührungspunkte haben. Tolkien phantasiert und die Phantasie ist Kunst. In "Über Märchen" sagt er:

"Die Phantasie erscheint mir nicht als eine niedere, sondern als eine höhere Form der Kunst, ja als diejenige Form, welche der Reinheit am nächsten kommt, und daher (wenn gelungen) die stärkste ist."



Tolkiens Geschichten sind Phantasien, die bewußt abseits der primären Welt angelegt sind in der wir leben. Dafür braucht es auch keine Rechtfertigung, denn, so sagt er, "Phantasie ist ein Menschenrecht" und resümiert dann:

"Phantasieren ist eine natürliche menschliche Tätigkeit. Keinesfalls zerstört oder beleidigt sie die Vernunft, und ebensowenig schmälert es das Verlangen nach wissenschaftlicher Erkenntnis oder verdunkelt die Wahrheit. Im Gegenteil. Je klarer und schärfer die Vernunft, desto bessere Phantasien wird sie hervorbringen."


Der gute Fantasy-Roman ist solch eine Zweitschöpfung von klarer Stringenz und er ist Kunst, denn "Märchen können in der Tat zu Kunstwerken aufsteigen" (Windling 2004, 262). Wie alle ('gute') Kunst lehrt gute Fantasy, wieder zu staunen und entspannt die Augen mit der Abwechslung einer völlig anderen Landschaft. Kleine Fluchten sind wichtig, denn den Alltag gibt es immer. Und für diese Stunden gilt einer der schönsten und charakterisierendsten Sätze Tolkiens:

"Die Brücke zum Bahnsteig 4 interessiert mich weniger als Bifröst, wo Heimdall mit dem Gjallarhorn wacht" (Tolkien FSd, 62).





Literatur

(F.W., Bochum, 4/95, rev. 2004))