Zwei Universen. Das Verhältnis von Realität und Fiktion in den fiktionalen Werken Tolkiens.
© Frank Weinreich



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Dichtung und Wahrheit scheinen selten so eindeutig getrennt wie in der Fantasy. Und kaum ein Autor hat so sehr wie Tolkien darauf bestanden, dass seine Werke ein ganz eigenes Universum darstellen. In welchem Verhältnis Dichtung und Wahrheit bei Tolkien stehen, ist das Thema dieses Aufsatzes.



Ich werde dabei so vorgehen, dass ich zuerst auf den Aufsatz On Fairy Stories eingehe, in dem sich die deutlichsten Äußerungen Tolkiens zum Thema finden. Dann gehe ich vom Herrn der Ringe, dem Hobbit und dem Silmarillion als dieser besonderen, tolkienartigen Form des Märchens aus und untersuche das Verhältnis von Realität und Fiktion in diesen Büchern. Der Schluss daraus wird sein, dass Mittelerde von Tolkien eine ganz eigene Realität zugesprochen wurde. Trotzdem möchte ich dann nachsehen, wo plausibler weise doch Verbindungen zwischen Dichtung und Wahrheit aufgezeigt werden können und ende dann mit meiner persönlichen Interpretation des Verhältnisses von Realität und Fiktion in Tolkiens Werken.
Die Geschichte(n) Mittelerdes: eine Sammlung von Fairy stories

Zunächst eine kurze Begriffsbestimmung: Wenn im Folgenden von Märchen die Rede ist, dann ist damit eine ganz bestimmte Gattung der phantastischen Literatur gemeint, bei der auch Tolkien Schwierigkeiten mit der Definition hatte und die heute allgemein als Fantasy bezeichnet wird. Diesen Begriff kannte unser Autor noch nicht als er seine Definition von fairy stories zu Papier brachte. Tolkien dachte bei fairy story schon an Märchen, aber nicht an Kindermärchen wie Der Wolf und die sieben Geißlein oder ähnliche. Er dachte an Märchen, die ausdrücklich nicht Kinder zur Zielgruppe haben sollten und die er deshalb in manchen Briefen als "adult fairy story" oder "adult faëry" - also als Märchen für Erwachsene bezeichnete. Manchmal spricht er denn auch im Unterschied dazu von fairy tale, wenn er Kindermärchen meint.

Märchen in diesem speziellen Sinn der adult faëry sind eine Mischung von Fiktion und Elementen aus der realen Welt. Zum Einen enthalten sie übernatürliche Dinge wie die Magie, sie enthalten aber auch altbekannte Dinge wie die Vögel, Bäume und die Menschen - nur werden diese zauberhaft entfremdet. In dem Aufsatz On Fairy Stories sagt Tolkien über das Wesen der faëries, dass dies das Reich umfasst, in dem die Feen leben und mit ihm alles, was es in diesem Reich an Sagenhaftem aber auch an Alltäglichem gibt. Er schreibt: "Faërie contains many things besides elves and fays, and besides dwarfs, witches, trolls, giants, or dragons, it holds the sea, the sun, the moon, the sky, and the earth and all things that are in it: tree and bird, water and stone, wine and bread, and ourselves [...] when we are enchanted" (FS, 14). Die realen Elemente der Märchen und besonders die Menschen in den Geschichten haben auf eine spezielle Weise an der Fiktion teil: Sie sind selbst verzaubert. Aber es besteht immer noch eineBindung an die reale Welt. Tom Shippey sagt treffend, in Tolkiens Augen gilt: "fantasy is not entirely made up" (Shippey 2003, 49). Die bekannten Dinge wie Bäume, Vögel und Menschen dienen der Verbindung zur Realität und sind Voraussetzung für das Widererkennen des Feenreichs, ohne die die Märchen für uns bedeutungslos blieben. Die Gebirge mögen höher und die Wälder mögen dichter sein, aber die Leserinnen und Leser bauen die Vorstellung von diesen Dingen auf den Bergen und Wäldern auf, die sie aus dem realen Leben kennen. Die übernatürlichen Elemente der Märchen wie Drachen, Zwerge, Hexen und Riesen oder bei Tolkien die Ents und die Mellyrn, diese Elemente sind diejenigen Bestandteile, die die Geschichte unserer normalen Erfahrung entrücken und den Bruch mit der Realität bewirken. Sie sind der offensichtliche Beweis für die Verzauberung.

Tolkien ist sich der Schwierigkeit bewusst, seine Sicht der fairy story (er redet selbst von einer "imperfect vision"; FS, p. 15) in eine Definition zu gießen. Er sieht die Gefahr, dass seine oben zitierten Sätze unklar bleiben und schreibt, dass eine positive Definition, also eine umfassende Erläuterung der Merkmale einer fairy story, nicht leistbar ist (FS, p. 14f.). Tolkien definiert deshalb zunächst einmal negativ, um klar zu machen, was er nicht als fairy story gelten lassen will, bevor er auf den Kern zurückkommt.
Was ist keine Fairy story?

Viele typische Kindermärchen wie etwa das vom Gestiefelten Kater oder Rotkäppchen werden ausgeschlossen (FS, p. 16). Er begründet die Ausgrenzung damit, dass der Sinn dieser Geschichten darin besteht, auf die reale Welt zurück zu verweisen, indem sie durch Beispiele 'guten' und 'bösen' Handelns erziehen wollen und den Kindern erzählerisch moralische Normen nahe bringen sollen.

Aus dem gleichen Grund schließt Tolkien auch die klassische Tierfabel aus. Fairy stories sind dem gegenüber viel eigenständiger. Ihr Zweck besteht geradezu darin, neben der realen Welt in Form einer eigenständigen Schöpfung zu existieren.

Satiren gehören nicht zu den fairy stories, auch wenn sie im Gewand der fantastischen Erzählung auftreten, denn eine Geschichte wird dann ausgeschlossen, wenn ihr wesentlicher Gehalt der Spiegel unseres wirklichen Verhaltens ist. Beispielhaft nennt Tolkien Jonathan Swifts Geschichten von Gullivers Reisen und die Lügengeschichten um den Baron von Münchhausen (FS, p. 16f). Der implizite Spott über menschliche Eigenheiten und Eitelkeiten in solchen Geschichten verweist zu deutlich auf die reale Welt zurück.

Auch Traumgeschichten wie Alice in Wonderland oder den Wizard of Oz schließt Tolkien aus und begründet dies damit, dass fairy stories sich als wahre Erzählung präsentieren müssen: "Since the fairy story deals with 'marvels', it cannot tolerate any frame or machinery suggesting that the whole story in which they occur is a[n] illusion" (FS, p. 18). "It is at any rate essential to a genuine fairy story, [...] that it should be presented as 'true'" (FS, p. 18). Dorothys zentrale Erkenntnis - There´s no place like home - hat keinen Platz in der fairy story.

Damit gelangt man an den Punkt, der zeigt, worin das Wesen der fairy stories besteht. Es handelt sich dabei um den besonderen Realitätsgehalt, der den fairy stories zugesprochen wird und der sich im Begriff Zweitschöpfung manifestiert.




Sub-Creation
Warum Zweitschöpfung ("sub-creation")? Die eigentliche Schöpfung ist für den Christen natürlich das von Gott geschaffene Universum und die Welt, in der wir leben. Künstler oder Schriftsteller können nur nach und in Anlehnung an die eigentliche Schöpfung etwas erschaffen. Man kann übrigens, um die Verbindung mit religiösen Aspekten, die ja nicht Jedermanns Sache sind, zu umgehen, genauso gut von Neuschöpfung sprechen. Im Folgenden benutze ich Neu- und Zweitschöpfung synonym.

Der Begriff Zweit-oder Neuschöpfung leitet über zu dem spezifischen Realitätsgehalt, den Tolkien den fairy stories im Besonderen und der Kunst im Allgemeinen zuspricht. Schriftstellerei, ebenso wie Bildhauerei oder Musik, setzt etwas Neues in die Welt. Eine Kreation aber, sei es ein Musikstück, ein Bild, eine Statue oder eben eine fairy story muss nach Tolkiens Überzeugung notwendigerweise für sich Wahrheit beanspruchen, sonst ist sie unglaubwürdig. Eine fairy story muss als wahr hingestellt werden (FS, p. 18) und drückt darin ihre Ernsthaftigkeit aus.

Natürlich ist klar, dass die Handlung des HdR nicht in dem Sinne 'wahr' ist, dass sie in irgendeiner realen Welt passiert. Aber innerhalb der Sekundärwelt, innerhalb von Mittelerde ist all dies sehr wohl geschehen! Tolkien definiert als wesentliches Attribut der fairy stories ihre innere Wahrhaftigkeit. Aus der immanenten Ernsthaftigkeit und Folgerichtigkeit beziehen die fairy stories ihre Wirksamkeit, die darin besteht, dass die Leser oder Zuhörer in sie eintauchen und an den Visionen des Erzählers teilhaben können. So ernst nimmt sich Mittelerde und so ernst muss sich eine fairy story nach Tolkiens Definition nehmen. Der Geschichtenerfinder erschafft eine Welt, die so viel Realität besitzt, dass der Geist der Leser in sie eintreten kann: "The storymaker proves a successful 'sub-creator'. He makes a Secondary World which your mind can enter" (FS, p. 36).

Hierin steckt der Grund, warum Tolkien sich immer wieder gegen eine Allegorisierung seiner Geschichten gewehrt hat. Allegorien würden die Integrität der Zweitschöpfung verletzen, denn die reale Welt fände ungerechtfertigten Eingang in die neue Welt. Hätte er den Ringkrieg als Versinnbildlichung unserer Weltkriege geschrieben, so hätte er keine Zweitschöpfung geschaffen.
Voraussetzung und Funktionen

Von den Lesern und Hörern der fairy stories verlangt Tolkien als Eingangsvoraussetzung, dass sie sich in einen Geisteszustand versetzen, den er in Anlehnung an Coleridge die willentliche Aussetzung des Unglaubens nennt (FS, p. 36). Von hier an hängt alles von der Qualität der Zweitschöpfung ab: "First of all it must succeed just as a tale" (Letters, p. 233).

Tolkien weist den fairy stories vier mögliche Funktionen zu, die sie erfüllen, wenn sie einerseits von hoher erzählerischer Qualität sind und sich die Leser andererseits auf die besondere Realitätsebene der Erzählungen einlassen. Die Funktion der Geschichten besteht darin, die Fantasie zu wecken und Wiederherstellung, Flucht und Trost zu gewähren.

Fantasy
Die Fantasie ist gewissermaßen die Eintrittskarte in die Welten der Märchen. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass Fantasie nicht alleine vom Geschichtenerzähler verlangt wird, sondern eine notwendige Voraussetzung auch auf Seiten der Hörer und Leser darstellt. Der Handlungsfaden ist nur eine Art Richtschnur, an welcher der Erzähler sein Publikum entlang führt. Die geschilderten Welten und Erlebnisse spielen sich im Kopf jedes einzelnen Lesers oder Hörers individuell ab. Jede Leserin und jeder Leser sieht andere Gesichter und andere Landschaften, wenn er oder sie die Beschreibungen liest.

Recovery
Die Wiederherstellung, die fairy stories dem Menschen gewähren, versteht Tolkien als ein Wiedererlangen eines klaren Blicks und die Einnahme einer neuen Perspektive (FS, p. 53). Neben dem Blick auf die neue Welt erlaubt die Wiederherstellung aber auch einen neuen Blick auf Altbekanntes und ermöglicht es so, das Staunen wieder zu lernen, das wir in der Routine unseres Lebens oft vergessen. Was dabei wieder hergestellt wird, ist das Staunen des Kindes über die neue Welt.

Escape
Tolkien unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Fluchten, die er als die Flucht des Deserteurs auf der einen Seite und die Flucht des Gefangenen auf der anderen Seite charakterisiert (FS, p. 56). Der Deserteur ist einfach nur ein Feigling, der weglaufen will - dem Gefangenen aber kann man den Willen zur Flucht nicht übel nehmen: "Why should a man be scorned, if, finding himself in prison, he tries to get out?" (FS, p. 55). Die Flucht des Gefangenen ist mehr Widerstand als Weglaufen. In eben diesem Sinne versteht Tolkien auch die Fluchtmöglichkeit, die fairy stories bieten: Er sieht sie als eine Möglichkeit der Erfüllung von Sehnsüchten und Befriedigungen, die die reale Welt nicht bieten kann.

Consolation
Trost wird dem Leser durch den glücklichen Ausgang gespendet, den Tolkien als notwendig ansieht: Jede fairy story muss ein glückliches Ende haben (FS, p. 62). Dieser glückliche Ausgang, der also garantiert ist, tröstet durch seine Gnade ("a sudden and miraculous grace"; FS, p. 62). Keiner der Protagonisten konnte damit rechnen, dass sich alles doch noch zum Guten wenden würde. Der gute Ausgang ist eine Gnade der Erlösung aus den Gefahren und drohenden Katastrophen, die die Geschichte erzählte. Um diesen Punkt hervorzuheben, den er als die wichtigste Funktion (FS, p. 62) von fairy stories ansieht, prägte Tolkien den Begriff von der guten Katastrophe, der Eukatastrophe, die am Ende jeder fairy story steht.

Der HdR als fairy story
Erfüllt der Herr der Ringe die angebenen Voraussetzungen für eine fairy story? Zum Aspekt der Zweitschöpfung lassen sich wohl nur wenige andere literarische Beispiele finden, an denen sich der schriftstellerische Schöpfungsprozess eindrücklicher erleben lässt. Mittelerde ist eine eigene Welt mit einer Schöpfungsmythologie, einer viele tausend Jahre umspannenden Geschichte, eigener Geografie und Ökologie und unterschiedlichen Völker, jeweils mit eigener Sprache, Physiognomie und Charakter. Damit ist Mittelerde eine eigenständige Schöpfung, die ihren Sinn in sich selbst hat und von ihrem Autor aber auch den Lesern ernst genommen wird. Ob die Geschichte auch überzeugen kann, ob also das Kriterium der Qualität stimmt, muss Jeder für sich entscheiden. Tad Williams bringt den wohl vorherrschenden Eindruck von Mittelerde auf den Punkt: "Es war dieser Eindruck von Wirklichkeit, was Mittelerde so überwältigend machte - nicht ein gemütliches 'stellen wir uns mal vor', [...] sondern das sichere Gefühl, etwas so Gewaltiges, Altes, Komplexes mußte auf irgendeine Weise real sein. Natürlich war es real" (Tolkien Times, August 2000).

Ob Tolkiens fairy story die Funktionen Fantasy, Recovery, Escape und Consolation erfüllt, entscheidet sich erst im Einzelfall eines konkreten Lesers und dem was er oder sie aus dem Buch ziehen kann. Der Fantasie ist durch die Geschichten jedenfalls eine Bühne bereitet, auf der sie sich entfalten kann. Wiederherstellung leistet die Geschichte durch die liebevolle und sorgfältige Art, in der Mittelerde beschrieben wird. Ich denke jedenfalls bei Waldspaziergängen oft an die Ents und stelle mir vor, dass das endlose Rauschen der Blätter und Zweige ein Gespräch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens ist. Ob Flucht als Widerstand eines in der tristen realen Welt gefangenen Lesers ermöglicht wird, ist ebenso wie die Funktion des Trostes eine Frage des persönlichen Bedarfs - eine Quelle dafür ist Mittelerde allemal.
Das Verhältnis von Realität und Märchen

Wie kann man nun vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen das Verhältnis von realer Welt und fairy story verstehen? Wie stehen sich Schöpfung und Zweitschöpfung gegenüber? Die reale Welt ist zwangsläufig die Ausgangslage für die Zweitschöpfung. Der Märchenerzähler bzw. der Autor von fairy stories lebt nun einmal in der realen Welt und kann nur von ihr ausgehend andere Welten und Universen erschaffen. Aber durch das Erzählen und Schreiben entsteht gleichzeitig etwas Neues: "secondary worlds [...] combine the ordinary with the extraordinary" (Kocher 2004, 147). Man könnte zwar sagen, dass dies Neue nur gesprochene Worte oder geschriebene Buchstaben sind, das würde jedoch den mit diesen Worten ausgesagten Inhalt unterschlagen, bei dem es sich in der Tat um eine neue, wenn auch fiktionale Welt handelt, die 'nur' aus dem Wortlaut der Geschichten besteht, die über sie erzählt werden. Aber der durch den Wortlaut konstituierte Inhalt ist etwas Neues, er ist eine Neuschöpfung. In unserem Fall heißt diese Welt Mittelerde.

Der Stoff aus dem Mittelerde geschaffen wurde, besteht in einer Übertragung und Verfremdung von Dingen der realen Welt. Den Drachen Smaug gibt es in der Realität nicht, aber er ist doch 'nur' ein phantasievolles Konstrukt aus den eher banalen Bestandteilen Reptil, Flügel, Feuer und Gier. Die Elben hat Tolkien selbst als eine Verkörperung von Schönheit und als Überhöhung der menschlichen Fähigkeit zu künstlerischem Ausdruck, ästhetischem Empfinden und wissenschaftlichem Erkenntnisstreben bezeichnet (L, 236). Sie sind damit nicht mehr als eine Idealisierung bestimmter menschlicher Wesenszüge. Auch sonst sind die Wälder Mitttelerdes ein bisschen dichter, schöner und geheimnisvoller als unsere, aber es sind Wälder, auch wenn einige Bäume laufen können.

All diese altbekannten Dinge werden in der fairy story in die neue Welt geschafft. Dort werden sie dann vergrößert oder verkleinert. Sie werden neu kombiniert und mit zusätzlichen Fähigkeiten versehen und erhalten dadurch dieses spezifische magische Fluidum, dass die Werke der Fantasyliteratur wie keine andere Eigenschaft charakterisiert. Aber sie werden dadurch auch der realen Welt entrückt und verzaubert und verzaubern durch diese Neuschöpfung wiederum die Leser und Zuhörer. Dies Verzaubern ist das Enchantment, das Tolkien in der anfangs zitierten Beschreibung des Feenreiches meinte. Und diese Verzauberung ist es, die die Neuschöpfung auf eine andersartige Realitätsebene hebt und dazu berechtigt, mit Einsetzen der Verzauberung von zwei Reichen zu reden. Auf der einen Seite haben wir nun die reale Welt und auf der anderen Seite steht die Neuschöpfung als in sich wahres Universum.

Jetzt erklärt sich auch, warum Tolkien immer wieder darauf besteht, dass Mittelerde und die Geschehnisse in Mittelerde auf keinen Fall allegorisch gemeint ist. In seiner Korrespondenz weist er immer wieder darauf hin, dass Mordor nicht die Sowjetunion ist, dass mit Sauron nicht Stalin oder Hitler gemeint sind und dass er mit dem Herrn der Ringe auf keinen Fall einen Schlüsselroman über das Böse im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben hat. Mittelerde existiert nicht um etwas Anderes willen, es existiert nicht, um auf Situationen in der realen Welt aufmerksam zu machen, sondern allein aus eigenem Recht. Durch den Akt der Verzauberung werden reale Welt und Neuschöpfung völlig voneinander getrennt. Die Allegorie hat aber gerade die Aufgabe, eine Fiktion mit der Realität zu verbinden. Die Aufgabe der Allegorie ist es, Sachverhalte zu verbildlichen. Das Wort allegoria stammt aus dem Griechischen und lässt sich mit "das Anderssagen" übersetzen. In der fairy story als Zweitschöpfung geht es aber gerade darum nichts anders zu sagen, sondern alles Gesagte genauso zu meinen, wie es ausgedrückt wird. Das trifft auch zu, wenn man gängige Definitionen von Allegorie ansieht, die sich mit Todorov zusammenfassen lassen als zwei Bedeutungen innerhalb einer bestimmten Aussage (Todorov 1975, 63). Genau das, solles nach Tolkien ja nicht sein.

Die Erschaffung einer neuen, einer vielleicht schöneren und trotz aller Spannung und Gefahr doch behüteteren Welt -- das ist die tolkiensche Intention beim Verfassen der Geschichte Mittelerdes gewesen. So will er Mittelerde verstanden wissen und er hat, wie ich finde, ein Recht darauf, so verstanden zu werden. Also kann man mit aller Berechtigung an diesem Punkt stehen bleiben und sagen: Zweitschöpfung, das ist alles, was in der Geschichte Mittelerdes zu lesen ist.



Rückverweise
Nur bleibt die Rezeption eben nicht an diesem Punkt stehen. Statt dessen versucht sie, das Werk dadurch noch besser zu verstehen und tiefer in es einzudringen, indem die Bezüge zwischen realer und erfundener Welt wieder hergestellt werden. Das ist, wie ich zu zeigen versucht habe, gar nicht notwendig, denn der Autor verneint ja jeglichen Sinn, der hinter dem expliziten Wort verborgen sein soll. Aber es reizt natürlich schon. Und natürlich gibt es diese Verbindungen zwischen Realität und Fiktion, denn der Autor ist die erste Verbindung zwischen beidem, aus der sich ein ganzer Strom von weiteren Verbindungen ergibt. Tolkien gibt mehrere Gründe an, die ihn dazu brachten, Mittelerde zu schaffen. Einer ist der Wunsch, seiner Heimat England Sagen zu widmen, die mit seiner Sprache und seinem Wesen eng verbunden sein sollten ("bound up with its tongue and soil"; L, 144). Sagen und ihre Mythen müssen aber nach Einschätzung auch Tolkiens notwendigerweise moralische und religiöse Wahrheiten enthalten: "Myth and fairy story must, as all art, reflect and contain in solution elements of moral and religious truth (or error)" (L, 144). An diesem Zugeständnis zeigt sich, dass er sehr wohl wusste, dass die ontologische Differenz von realer und neu erschaffener Welt immer auch wieder aufgehoben werden kann.

Allegorische Deutungen werden von Tolkien einerseits strikt abgelehnt. Andererseits, so glaube ich zumindest, war ihm aber doch klar, dass die natürliche Verbindung von Realität und Fiktion über die Person des Mythenschöpfers , also des Autors, die allegorische Lesart immer wieder herausfordern würde. Allegorische Interpretationsversuche sind also zwar mit großer Vorsicht zu lesen, aber es ist auch schwer, ihnen auszuweichen.

Es gibt Deutungsversuche, die sehr weit hergeholt sind. So berichtet Patrick Curry in Defending Middle-Earth von Jack Zipes, der den Hobbit marxistisch deutet: Demnach formen Bilbo und die Zwerge eine Allianz von unterer Mittelklasse und Arbeiterschaft, die auszieht, um den parasitären, kapitalistischen Ausbeuter (den Drachen Smaug) zu bezwingen und seinen Reichtum dem Proletariat zukommen zu lassen (Curry 1997, p. 17). Das ist schon sehr starkes Pfeifenkraut! Neben solchen Interpretationsansätzen gibt es aber auch plausiblere Deutungen der Werke.

Eine Geschichte entsteht nicht unabhängig von dem psychischen und sozialen Vorleben des Autoren. Menschen weisen eine bestimmte Biographie auf, die sie mit bestimmten kulturellen und moralischen Werten verbindet, autoren stehen zudem in literarischen Traditionen (vgl. bspw. Jackson 1981, 3; Shippey 2001, 159). Im Leben lernt man, Weltbildern, Dingen und Sachverhalten einen Wert zuzumessen. Ob dies nun persönlich oder vermittelt durch Lektüre, Fernsehen, Internet usw. geschieht, ist nicht von Bedeutung. Die Biographie prägt den Autor bewusst und unbewusst und fließt so in die Schöpfung mit ein. Das gilt natürlich auch für Tolkien. Ein Beispiel: Er war geprägt von dem Erlebnis, als Junge im Alter von acht Jahren aus der ländlichen Idylle in die Industriestadt Birmingham verpflanzt zu werden. Eine einleuchtende Interpretation vor dem Hintergrund des Wissens um diesen Teil von Tolkiens Biographie lautet dann: Der Schrecken Sams, der in Galadriels Spiegel sieht, dass die Bagshot Row aufgegraben und alle Bäume an ihrem Rand gefällt wurden (I, p. 353), dieser Schrecken also, finde seinen Ausdruck in der Erfahrung Tolkiens mit dem Umzug nach Birmingham.

Es ist Tolkien vollkommen ernst damit, den HdR nicht mit allegorischen Motiven geschrieben zu haben. Es stimmt aber auch, dass die Vita des Autors in das Werk eingeflossen ist. Dieter Petzold hat dies in einer Interpretation mit dem Titel Tolkiens Kosmos einmal so ausgedrückt: "Jeder Autor fiktionaler Texte [...] schafft durch sein Schreiben eine eigene Welt. In dieser Schöpferfunktion gründet eine fast unermeßliche Freiheit, die, so groß sie ist, allerdings niemals absolut sein kann" (Petzold 1984, 123). Die Trennung von realer und erfundener Welt ist nie absolut, da die erfundene Welt immer aus der realen abgeleitet wird und sei sie auch noch so verfremdet: "Wie jede Fiktion erlaubt auch die Tolkiens, auf das Weltbild ihres Urhebers zu schließen. [...] Die fiktionale Gegen-Welt impliziert ein bestimmtes Bild der realen Welt" (Petzold 2005, 54). Einige solche Beispiele für den Einfluss der Realität sind Welt und Umwelt, der totalitäre Anspruch des Bösen und die christliche Weltsicht.

Welt und Umwelt
Das Böse im HdR wird in maschinenhafter und umweltzerstörerischer Weise dargestellt. Die Orcs zerstören den Wald Fangorn, um die Schmieden Sarumans zu befeuern und das gesamte Land Mordor ist eine Einöde, die mit gewaltigen Werkstätten bepflastert ist, die Kriegsgerät herstellen. Dieses Bild des Bösen entspringt zum einen - vielleicht unbewusst - der Erfahrung des jungen Ronald mit Birmingham und zum anderen den Erfahrungen der Weltkriege, aber auch der Moderne insgesamt. In einem Brief aus dem Jahr 1952 schreibt Tolkien ganz ausdrücklich: Such is modern life. Mordor in our midst (Letters, p. 165).

Totalitarismus
Ein zweites Kennzeichen des Bösen in Tolkiens Werken ist der totalitäre Anspruch Saurons und Morgoths. Das Böse versucht, die totale Kontrolle zu erlangen und jegliche Freiheit zu unterbinden. Dieser Anspruch ist identisch mit dem wesentlichen Kennzeichen des Totalitarismus wie es die Philosophin Hannah Arendt wissenschaftlich herausgearbeitet hat und wie George Orwell es in 1984 ebenfalls mit literarischen Mitteln beschreibt. Tolkien bestritt zwar einen Vergleich Saurons mit Stalin vehement (Letters, p. 307), die Parallele liegt aber trotzdem nahe. Das liegt daran, dass Tolkien eben das absolute Böse beschreiben wollte - und das fällt mit dem Bösen in der Realität zusammen.

Die christliche Weltsicht
Die Verbindung zwischen dem christlichen Mythos und Mittelerde besonders eng. Sie lässt sich in der Schöpfungsmythologie der Welt nachweisen, sie steckt in der Person Morgoths, dessen Motivation mit der des christlichen Teufels, Luzifer, übereinstimmt, und sie zeigt sich an vielen anderen Stellen. Doch dies alles ist nicht der eigentliche Punkt. Der liegt nämlich darin, dass eine Zweitschöpfung ja nach Tolkiens Ansicht gar nichts anderes sein kann als eine Wiederholung der christlichen Mythologie. In On Fairy Stories schrieb Tolkien, wie oben erläutert, dass Märchen eine glückliche Wendung, die Eukatastrophe, beinhalten müssen. Darin folgen fairy stories dem großen Vorbild der Primärwelt. Denn die Primärwelt ist für den tief gläubigen Tolkien die Welt, in der Gott es ebenfalls zur glücklichen Wendung hat kommen lassen, die völlig überraschend (und unverdient) zum Happy End führte: The Birth of Christ is the eucatastrophe of Man´s History (FS, p. 65). Jede fairy story - natürlich auch der HdR - ist nichts anderes als ein Abglanz von Gottes Gnadengeschichte. Diese Allegorie besteht - und ist durchaus auch in des Autors Sinn.

Und es gibt noch einen weiteren Rückverweis - nämlich den, dass unsere Welt (die Erde, Terra, Sol III what ever) Mittelerde im vierten oder einem späteren Zeitalter ist. (weiter ...)

Die Möglichkeit einer plausiblen Rückbindung der Zweitschöpfung an die reale Welt ist also gegeben und der Wunsch danach ist auch verständlich, da man doch glaubt, auf diesem Weg zu einem besseren Verständnis des Werks zu gelangen. Es ist beileibe nicht nötig, um Mittelerde zu verstehen und es birgt statt dessen sogar die Gefahr, Tolkiens Welt zu missverstehen. Aber so etwa nach der dritten oder vierten Lektüre des HdR und wenn man sich zum zweiten Mal durch das "Silmarillion" und die nachgelassenen Schriften gearbeitet hat, kommen die Deutungsversuche schon fast von alleine.
Meine persönliche Interpretation

Meine persönliche Interpretation von Mittelerde und dem Aufsatz On Fairy stories sowie der Äußerungen aus der Korrespondenz unseres Autors sieht nun folgendermaßen aus. Ich nehme den Anspruch der Zweitschöpfung auf Wahrhaftigkeit völlig ernst und versuche Mittelerde als von der realen Welt unabhängigen Traum ihres Schöpfers zu sehen. Aber diese Neuschöpfung ist von unserer Welt abgeleitet. Der Traumcharakter Mittelerdes offenbart sich in der idealisierten und überhöhten Form des Beschriebenen, das aufzeigt was Tolkien liebte und was er fürchtete. In einem Briefentwurf von 1959, den er allerdings nie absandte, schreibt Tolkien: "I wish to write this kind of story and no other. I do this because [...] I find that my comment on the world is most easily and naturally expressed in this way. [...] I have no didactic purpose, and no allegoric intent. [...] But long narratives cannot be made out of nothing; and one cannot rearrange the primary matter in secondary patterns without indicating feelings and opinions about one´s material" (L, 297f. [Letter No. 215])

Faszinierend finde ich vor allem die Aussage, dass Tolkien die Geschichte Mittelerdes als seinen Kommentar zur realen Welt bezeichnet. Mittelerde ist eine Welt mit dem Anspruch auf einen eigenen Status von Realität. Aber sie ist eben doch ein Derivat der Realität, denn man kann das Gewebe der realen Welt nicht umarrangieren ohne die eigenen Gefühle und Meinungen einfließen zu lassen. Diesen Einfluss dann als Kommentar zur realen Welt zu bezeichnen ist höchst passend, ist doch ein Kommentar die begründete aber subjektiv wertende Beurteilung eines Sachverhalts.

Die subjektiv wertende Beurteilung Tolkiens zum Sachverhalt Realität drückt sich nach dieser Sichtweise dann in den ergreifenden Schilderungen Mittelerdes aus. Sie zeigt sich in der liebevollen Darstellung des Auenlandes, in der Beschreibung der Schönheiten Rivendells und Lothloriens. Sie zeigt sich in meiner Lieblingsstelle aus dem HdR: Der wunderbaren Beschreibung der Höhlen unter Helms Klamm die Gimli Legolas auf dem Weg nach Isengart gibt. Die subjektiv wertende Beurteilung zeigt sich aber auch in der Bedrohung all des Schönen, die ihren Ausdruck beispielsweise in der Zerstörung Isengarts durch Saruman findet oder in der Verwandlung des Auenlandes durch die Besetzung von Sharkeys Bande. Und die Gefahr wird natürlich eindringlich durch das Wesen der Ödnis Mordors verdeutlicht. Und das sind jetzt nur Beispiele für Tolkiens feelings and opinions für die Natur gewesen. Weitere Überzeugungen finden deutlichen Ausdruck beispielsweise in der Beschreibung der korrumpierenden Kraft absoluter Macht - schließlich wollte selbst Morgoth anfangs, als er noch Melkor war, Mittelerde positiv gestalten -. Sie finden Ausdruck im Glauben an den Wert auch des vermeintlich unwichtigsten Individuums, der besonders durch Bilbo, Sam und natürlich Frodo versinnbildlicht wird und sie zeigen sich im religiös vermittelten Vertrauen auf den glücklichen Ausgang der Weltgeschichte, die sich als Eukatastrophen im HdR gleich mehrfach ereignen.



Natürlich können Zweitschöpfungen, als individueller Kommentar eines Autors, eines Malers, eines Komponisten oder Bildhauers irren, unplausibel sein oder sogar gefährliche feelings and opinions vertreten. Ihr Erfolg oder Misserfolg wird dann ein guter Indikator für ihre Plausibilität und Schönheit sein. Der Erfolg von Mittelerde ist immens, er ist vielleicht unübertroffen. Ich glaube, dass dies - neben der erzählerischen Kraft Tolkiens und neben der Qualität der Handlung - auch daran liegt, dass seine Idealisierungen diejenigen Dinge erhöhen und solche Bedrohungen anprangern, von denen ganz, ganz viele Menschen auch glauben, dass in ihnen Schönheit und Wahrheit enthalten sind.



Literatur

(Frank Weinreich, Bochum 08/´02)